Der polnische Roman des späten 19. Jahrhunderts (B. Prus, S. Żeromski) und das ‚soziale Imaginäre‘
Jens Herlth (Université de Fribourg)

Als Stanisław Brzozowski 1906 seine Abhandlung über den Polnischen Gegenwartsroman schreibt (Współczesna powieść polska), steht es für ihn außer Frage, dass der Roman in erster Linie eine „Quelle“ sei, aus der eine Gesellschaft „Informationen über ihr eigenes Leben“ gewinnen könne. Roman und Soziologie stehen hier einem Verhältnis produktiver Konkurrenz. Brzozowski versteht seinen Befund durchaus als normative Vorgabe: Nur diejenigen Romane seien es wert, überhaupt seriös analysiert zu werden, die in diesem Sinne soziologisch aufschlussreich seien. Brzozowski stützt sich mit solchen Forderungen vor allem auf die romantheoretischen Debatten in Frankreich. Dem erklärten Anspruch etwa eines Émile Zola, in seinen Romanen „praktische Soziologie“ zu betreiben, oder dem Befund Jean-Marie Guyaus, dass der Roman den „Bewusstseinsstand“ (l’état de conscience) einer Gesellschaft einfangen könne, entsprach die soziologische Forschungspraxis, indem sie auch literarische Werke als ‚empirische‘ Quellen heranzog.

Die Frage, wie man aus einem Roman soziologisches Wissen ableiten könne, und vor allem die Frage, wie ein Roman soziale Realität adäquat ‚abbilden‘, metonymisch ‚repräsentieren‘ oder symbolisch erfassen könne, ist epistemologisch höchst komplex, und das sowohl in soziologischer wie auch in literaturtheoretischer Hinsicht. Das Arbeiten mit vorgefundenem ‚Material‘ oder realen Prototypen, die konkrete Beobachtung und ethnographische Milieubeschreibung waren für die Romanautoren des Naturalismus bzw. Positivismus unverzichtbare Methoden. Doch in den romantheoretischen Debatten der Epoche zeichnet sich schon ab, dass es dabei keineswegs um eine einfache Abbildung materieller sozialer Realität gehen konnte. Der Rekurs auf Konzepte wie „soziales Bewusstsein“ oder „Repräsentationen“ (Durkheim) im zeitgenössischen soziologischen Denken wies den Weg in Richtung einer Kategorie, die man wohl am treffendsten mit dem Begriff des ‚Imaginären‘ umreißen kann.

Brzozowski beklagt in seiner Abhandlung, dass bis dato niemand die „Typen“, „Schablonen“ oder „Phantasmagorien“ systematisch untersucht habe, mit denen der polnische Roman der Gegenwart arbeite. Doch seine Kritik galt nicht nur der (Literatur-)Kritik, sondern auch dem Roman selbst: Der polnische Roman habe es nicht vermocht, dem polnischen Leser eine Verbindung seines individuellen Lebens mit dem der Allgemeinheit zu aufzuzeigen, sondern isoliere ihn vielmehr in „philiströser Abkapselung“. Dadurch trage er dazu bei, die „lesenden Schichten“ der polnischen Gesellschaft in „Privatleute“ zu verwandeln, die zu „gesellschaftlicher Initiative“ nicht fähig seien. Brzozowski postuliert damit einen direkten Wirkungszusammenhang zwischen Roman und sozialem Bewusstsein. Allerdings greift er selbst in seinen Überblickskapiteln zu den Werken der bekanntesten Romanautor(inn)en seiner Zeit immer wieder auf individualpsychologische Erklärungsmodelle zurück. Offensichtlich hatte er kein theoretisches Konzept, mit dem er die von ihm unterstellte ‚Erziehung‘ der polnischen Gesellschaft durch den Roman hätte erklären können.

Das Postulat einer ‚Wirkung‘ artikuliert sich im Medium des Auratischen und des Performativen. In einem Nachruf auf Kazimierz Kelles-Krauz forderte Brzozowski 1906 die Leser auf, in Zeromskis Ludzie bezdomni die Passage über Marian Bohusz (J. K. Potocki) zu lesen: Nur so könnten sie die Tragweite des realen Geschehens von Kelles-Krauz‘ Tod wirklich verstehen. Der Roman möchte hier als ein Katalysator für gesellschaftliches Bewusstsein wirken. Es ist kein Zufall, dass sich hier der Dialog zwischen dem Sozialen und dem Roman gerade im Medium des sozialen Engagements vollzieht – in der performativen Orientierung auf die Umwandlung der ‚Gesellschaft‘.

Der vorliegende Beitrag schlägt vor, den Austausch zwischen Fiktion und Lesererwartung in der polnischen Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit der Kategorie des „sozialen Imaginären“ zu lesen: Zwei Romane von Bolesław Prus (Lalka, Emancypantki) und einer von Stefan Żeromski (Ludzie bezdomni) werden im Zentrum der Betrachtung stehen. Dabei geht es nicht um die Frage, wie durch Romanlektüre nationale Gemeinschaften imaginiert und konstruiert werden (Anderson) und auch nicht um den Roman als „nationale Allegorie“ (Jameson über Lalka). Vielmehr soll das ‚soziale Imaginäre‘ hier als ein Raum verstanden werden, der durch Narrative konstituiert und semantisch imprägniert wird. Die Romane operieren in diesem Raum, indem sie die Bedürfnisse und Wünsche der polnischen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts definieren. Ihre suggestive Wirkung beruht darauf, dass die Grenze zwischen Diegese und Nicht-Diegese im Bereich des Imaginären durchlässig ist.